Von der Wissenschaft des Spazierengehens – ein Erfahrungsbericht

28. Oktober 2010 | Von | Kategorie: Reiselust, Stadtgeschichten

Dass es in Wien nicht nur eine Haidequerstraße, sondern derer elf gibt, mutet straßennamenstechnisch ein wenig einfallslos an, ist allerdings gut zu wissen, wenn man in einem Bus der Linie 76A vom Enkplatz kommend in eben die 11. dieser Haidequerstraßen unterwegs ist, um dort zwischen Müllverbrennungsanlage, Ostautobahn und Hafen Freudenau einer spaziergangswissenschaftlichen Exkursion beizuwohnen.

Promenadologie nennt sich die Disziplin, die im vorigen Jahrhundert vom Schweizer Soziologen Lucius Burkhardt begründet und an der Gesamthochschule Kassel gelehrt wurde und wird. Mit seinem ehemaligen Schüler und unermüdlichen Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar promenierte man nun im Zuge eines „angewandten“ Spaziergangs durch die Simmeringer Asphaltprärie.

Die olfaktorische Begrüßung durch die Biogasanlage fiel dabei witterungsbedingt gnädig aus, und einem beim Passieren der Hauptkläranlage ein, dass der Begriff Verdauungspaziergang in diesem Kontext eine völlig neue Bedeutung erfährt. Ganz generell hielt das urbane Flanieren eine Menge an Information bereit und so weiß man nun, dass sich das Umweltzentrum Simmering – sozusagen der Verdauungstrakt der Großstadt – am tiefsten Punkt Wiens befindet, wo 99,9 % des städtischen Abwassers zusammenfließen – vom Regenwasser bis zur Häuslspülung – und 32 Tonnen Müll pro Stunde verbrannt werden, was dem Gewicht von acht Elefanten entspricht. Diesen Vergleich empfand man dann wiederum im wahrsten Sinne des Wortes als plump. Was den 50.000 Haushalte, die mit der so gewonnenen Energie versorgt werden, egal sein dürfte.

Diese Informationen im Gepäck ließ man die signalorange Fassade der Biogas-, das satte Grün der Verbrennungs- und das Azurblau der Kläranlage langsam hinter sich. Rein farbtechnisch ist die rurale Vergangenheit des einstigen Eldorados für Schrebergärnter_innen an den Industriegebäuden des 21. Jahrhunderts noch zu erahnen. Mit der Landwirtschaft ist allerdings seit spätestens 2002 Schluss, denn da wurde die Fläche zwischen Freudenauer Hafen und Ostautobahn endgültig zum „Entsorgungs“gebiet umgewidmet.

Richtung Südwesten spazierend näherte man sich am Canossaweg der Falschparker_innen alsbald dem KFZ-Verwahrplatz, der sich an der Autobahnabfahrt Simmeringer Haide befindet. Auch hier wieder eine Menge Facts & Figures und die Erkenntnis, dass sich EUR 192,- – und das ist das Kostenminimum für eine Abschleppaktion – für ein schnelles Falschparkabenteuer nicht auszahlen. Neu war einem allerdings, dass auch Fahrräder und Einkaufswägen, wenn widerrechtlich abgestellt, der Weg ins ferne Simmering droht.
Und auch hier wieder die Zahlen: Jährlich landen rund 24.000 Kraftfahrzeuge, davon 2.000 bis 3.000 ohne Kennzeichen, 1000 Fahrräder und an die 30.000 Einkaufswägen am KFZ-Verwahrplatz. Wobei für die Abführung letzterer die Kehrforce der MA 48 zuständig ist. Man dachte ja immer, die Supermärkte hätten ihre eigenen „Rückholkommandos“, aber der Abschleppexperte wusste diese Annahme zu berichtigen. Es gäbe zwar private Entsorgungsdienste, die allerdings nicht über die notwendige Kapazität zum Abtransport verfügten und daher die Wägen zwar sammelten, aber letztendlich nicht abtransportieren könnten.

Soweit ein kleiner Exkurs zum Schicksal an Straßenecken verwaister Einkaufswagerl – mit dem Nachtrag, dass die „Entführung“ eines ebensolchen und das Dabei-Erwischt-Werden satte EUR 36,- kostet. Analog zu „Gackerl ins Sackerl“ also „Wagerl ins Laderl“ – auch hier im Dienste der Einhaltung des (Reinhalte)gesetzes unterwegs – die Wastewatchers – angeblich sogar inkognito. Und sollte es jemals einen Grimme Preis für innovatives Branding geben, er wäre der MA 48 sicher.

Nach diesem Exkurs in die Gefilde der Wiener Abfallwirtschaft verließ man die vereinsamten Blechkisten in Richtung Ostautobahn, um unter dieser den Lärmpegel zu erkunden und staunte. Stille – naja, beinahe. Auf alle Fälle eine Geräuschkulisse, die durchaus ein kleines Mittagesschläfchen zugelassen hätte. Doch mittlerweile war es bereits später Nachmittag und es blieb keine Zeit für Ruhen und Rasten. Zudem wartete bereits der nette Herr Hewera mit seinen großen Baumzerkleinerungsmaschinen und alten Traktoren auf den Besuch der (Neo)promenadolog_innen. Es folgte eine Einführung in die Kunst des Baumfällens inklusive entsprechender Gerätekunde und Gefahrenhinweise für angehende Lumberjacks. Man resümierte, dass man doch recht froh sein konnte, bloß einen Miniaturapfelbaum sein Eigen nennen zu dürfen.

Vorbei an den Humuswällen der Hewera´schen Gartenbauaktivitäten ging es entlang der Ostautobahn auf dem Boden ehemaliger Kleingärten, vorbei an vereinzelt in der Landschaft stehenden Gewächshäusern und einer – unverschlossenen – Tür, welche geradewegs auf die Autobahn führt. In der Ferne tauchten die Dächer der ehemaligen Kaiserebersdorfer Kaserne auf. Diese wird seit den 50iger Jahren als Unterkunft für Flüchtlinge aus allen Herren Ländern genutzt und trägt den literarischen, wenngleich inoffiziellen Namen Macondo.

Und so führte einen der Spaziergang entlang eben diesen Macondo´s alten Baumbeständen, vorbei am blühenden Nachbarschaftsgarten und über das staubige Fußballfeld durch ein Loch im gelben Wellblechzaun über den Merkur-Parkplatz ins HUMA-Einkaufszentrum. Dort feierte ein vom Leben und seinen Umständen sediertes Publikum das Oktoberfest. Ein Paar drehte sich eingezwängt zwischen Biertischen und Sportgeschäftauslage zu den Klängen Zillertaler-Schürzenjäger-Klone, die auf ein Duett geschrumpft waren. Eine Überdosis Prozac hätte der Stimmung gut getan und man entfloh schnellen Schrittes der tristesse banlieue. Vorbei an Grillhendelstation und aquariumsähnlicher Plastikbox für den Rauchwarengenuss ging es raus aus dem Einkaufszentrum in Richtung Donau.

Man war auf der Suche nach dem Friedhof der Bücher, welcher sich im Landhaus Winter befindet. Das Donauufer empfang einen in der Dämmerung. Im Landhaus Winter war das Licht dann noch etwas gedämpfter. Man wurde bereits erwartet. Die Atmosphäre schwankte zwischen feierlich und beklemmend. Die Lampe am kleinen Beistelltischchen wurde angeknipst. Und  während man selbst fast an einer üppig gewürzten Fischsuppe zu ersticken drohte, begann Frau Winter ihr Oeuvre zu rezitieren. Schneewitchen darf nicht sterben.

An die 7 Zwerge dürfte sich auch der Fahrer der Buslinie 76A erinnert gefühlt haben, als er im Dunkel der Nacht und vor dem Hintergrund der riesigen Industrieanlagen ein kleines Grüppchen Spaziergänger_innen auflas. Denn auch in den Simmeringer Outbacks ist der Weg das Ziel. Und dieses, da der Weg rund war, mit promenadologischer Präzision die wohlbekannte Umgebung der Bushaltestelle nicht irgendeiner, sondern eben genau der elften Haidequerstraße.

Strollology goes Simmering – hier geht´s zum photostream

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